Montag, 23. Dezember 2013

Justine Sacco, Twitter und der Lynchmob: Das Neandertaler-Internet

Das Weihnachtsfest steht vor der Tür. Das Jahr 2013 neigt sich dem Ende zu und wird wohl als das Jahr in die Geschichte eingehen, in dem das Internet seine Unschuld verlor. Der NSA-Skandal und die Vernichtung jeglicher Privatsphäre (On- UND Offline) sind an sich schon unverdauliche Fakten. Dank Edward Snowden wissen wir: Big Brother gibt es wirklich. Die schlimmere Nachricht: Der breiten Masse ist das egal.

Aus aktuellem Anlass möchte ich meine Gedanken zu einer weiteren, sehr bedenklichen Entwicklung mit Ihnen teilen. Auch diese hat mit der "breiten Masse" zu tun.


Eine pechschwarze Weihnachtsgeschichte erlebte die inzwischen gefeuerte PR-Managerin der InterActive Corp, Justine Sacco. Vor einem Flug in ihre Heimat Südafrika hinterließ sie der Netzgemeinde einen idiotischen, sehr wahrscheinlich ironisch gemeinten Tweet. Während sie noch im Flugzeug saß und keinen Internetzugang hatte, brach ein wahrer Sturm der Entrüstung los. Zuerst auf Twitter, dann auf Facebook, schließlich griffen Blogger und Medien das Thema auf. Als sie wenige Stunden später in Südafrika landete, war sie nicht nur ihren Job los, sondern sah sich genötigt, per Löschung ihrer Twitter- und Facebook-Accounts, auf denen sich mittlerweile der geballte Hass der Community ergossen hat, digitalen Selbstmord zu begehen. Wer heute nach Justine Sacco sucht, findet eine für alle Zeiten gebrandmarkte Frau: Hass-Postings und Medienartikel in den Web-Suchresultaten, ihr Originaltweet in hundertfacher Vervielfältigung in der Fotosuche, Hass-Videos auf YouTube und vieles mehr. Justine Sacco wurde digital gelyncht.

Ich halte Justine Saccos Tweet für geschmacklos und absolut verfehlt. Sie ist kein Satire-Blogger, der mit solchen Aussagen zum Nachdenken anregen könnte, ohne mit negativen Folgen rechnen zu müssen. Jedem Late-Night-Talker würden sie verziehen werden. Die PR-Chefin eines Firmenkonglomerats, das unter anderem eine Dating-Seite für Afro-Amerikaner betreibt, schießt sich damit ins Aus, und das hätte sie absehen müssen. Selbst wenn sie aus Südafrika stammt und ihr Tweet auch deshalb nur als verunglückte Satire betrachtet werden kann.

Was mich aber wirklich erschreckt, ist die Art und Weise, wie "das Internet", also wieder einmal "die breite Masse" – der MOB – ihre Existenz binnen Stunden vernichten konnte, ohne dass Justine Sacco die Gelegenheit gehabt hätte, sich ein einziges Mal zu erklären. In frühen Zivilisationen, dem Imperium Romanum, dem finstersten Mittelalter, in Revolutionen, schrecklichen (Welt-)kriegen und dem heutigen Leben stand und steht das Verfahren stets VOR der Vollstreckung. Selbst das im Rahmen der Hexenverbrennungen geheuchelte investigative Bemühen verfolgte den Zweck, die Schuld des Angeklagten nachzuweisen. Man wollte niemanden grundlos auf dem Scheiterhaufen brennen sehen. Und selbst wenn es noch so absurd war: Es GAB ein (dem Mob entzogenes) Verfahren, weil es sich als Notwendigkeit des geordneten Zusammenlebens etabliert hat.

Was wir heute in Fällen wie Justine Sacco erleben, ist Lynchjustiz – ohne Justiz. Das Internet zeigt seine hässliche Fratze. Mangels übergeordneter Kontrollinstanz ist es der aufgebrachten Internetgemeinde möglich, Menschen eigenmächtig an den virtuellen Pranger zu stellen, zu liquidieren und die digitale Leiche schließlich johlend durch "Soziale" Medien und Blogosphäre zu schleifen, ohne Konsequenzen befürchten zu müssen.

Nein, ich nehme Justine Sacco nicht in Schutz. Es liegt weder in meiner Absicht noch in meiner Macht. Niemand könnte die Justine Saccos dieser Welt schützen. Und genau das ist das Problem. Ein unbedachtes Kommentar, ein vorschneller Tweet, ein besoffenes Posting, ein in verzweifelter Situation oder geistiger Umnachtung abgesetzter virtueller Schrei – und man brennt. Das Internet kennt keine Verfahren, keine Gnade, nur Vollstreckung. Hat sich der Mob eingeschossen, ist man erledigt. Virtuell tot, bis ans biologische Lebensende. Im besten Fall. Denn Justine Saccos Tweet könnte sie und ihre Nachkommen überdauern und für alle Zeiten im Netz auffindbar bleiben, zusammen mit ihren Bildern und ihrem verhängnisvollen Tweet. Eine schaurige Form der Unsterblichkeit.

Das Internet befindet sich – entwicklungstechnisch gesehen – im Zeitalter der Neandertaler. Man nimmt sich, was man will, und tut, wozu einem beliebt. Die weltweite Vernetzung gibt kollektive Macht. Und kollektive Macht braucht entweder kollektives Verantwortungsbewusstsein (wer hat's erfunden?) oder übergeordnete Kontrolle. Beides fehlt. Nie zuvor zeigte sich das so deutlich wie in den Ereignissen und Erkenntnissen des Jahres 2013.

Ich fürchte, dass wir die digitale Freiheit, die wir in den ersten 20 Jahren des Bestehens des Internets genießen konnten, nicht mehr lange erleben werden. Die Politik wird aufhören, das Medium als Neuland zu betrachten, und seine Kontrollmechanismen auch online aufbauen, gegenüber Individuen genauso wie gegenüber den Online-Giganten, wo zu viel Macht in privaten Händen liegt.

So sehr ich mir ein freies Internet wünsche, so wichtig wird es sein, das Medium aus dem Neandertaler-Stadium zu befreien und etablierte Grundregeln des Zusammenlebens auch online umzusetzen.

Es besteht dringender Handlungsbedarf.

UPDATE: Ein Kommentar in der New York Times griff diese Thematik ebenfalls auf und führt weitere Anlassfälle an.

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